Manchmal schreibe ich ganz gerne Geschichten, auch mal ein Gedicht ...
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Dienstag, 16. Februar 2010

Finnland – ein Traum

Matango Batango seufzt tief. In der glühenden Sonne steht er auf einem Bein und hütet die Rinder des Königs. Seine tiefschwarze Haut bildet einen wirkungsvollen Kontrast zum grellen Gelb der Hirtenhose, die in dem kleinen, fast vergessenen Königreich im Herzen des heißen Kontinents Vorschrift für alle königlichen Rinderhirten ist. Im leichten Wind, welcher nur allzu selten kurzfristige Linderung bringt, klingeln leise die Glöckchen am reich verzierten Hirtenstab, dem Symbol seines verantwortungsvollen Amtes.
Das Dasein als königlicher Rinderhirte hat viele Vorteile. Neben der regelmäßigen, aber eher kargen Bezahlung darf man mit seiner Familie am Hof des Königs und damit in unmittelbarer Nähe der besten und ergiebigsten Wasserstelle des Landes wohnen. Hat man die schier unlösbare Aufgabe bewältigt, das Vieh unbeschadet und ohne Verluste durch ein ganzes Jahr zu bringen, kann man sich eins der minderwertigeren Kälber aus der Herde des Königs aussuchen. Wirklich gute Hirten können es mit ein wenig Glück im Laufe ihres Lebens auf eine recht stattliche Herde und somit zu Reichtum bringen, immer vorausgesetzt sie vernachlässigen die königlichen Rinder nicht. Auf Krankheit, Verletzung oder gar Verlust  eines Tiers der Herde des Königs stehen drastische Strafen. Man muss zum Beispiel ein verlorenes oder eingegangenes Rind aus der eigenen Herde ersetzen, selbstverständlich mit seinen besten Tieren. Verletzt sich ein Tier, so wird dem unglücklichen Hirten durch die Soldaten des Königs die gleiche Verletzung zugefügt. Im schlimmsten Fall presst man ein Mitglied der Familie des Hirten in den königlichen Dienst. Die Sklaverei gilt zwar schon seit Jahrzehnten offiziell als abgeschafft, jedoch für die armen Familienmitglieder im Dienste des Königs macht das kaum einen Unterschied.
Matango ist noch recht jung. Den Posten eines königlichen Hirten hat er seinem Onkel zu verdanken. Dieser war nach vielen Jahren aus dem Dienst ausgeschieden. Zwar fehlten ihm nun der linke Arm, ein Fuß und das rechte Auge, aber er nannte eine ziemlich große Rinderherde, zwei Frauen, 17 Kinder und schon 9 Enkelkinder sein eigen. Er war wohl der erfolgreichste Hirte, den der königliche Hof je gesehen hatte und so durfte er seinen Nachfolger selbst bestimmen. 
Die Wahl fiel auf seinen Neffen, den Sohn seines Lieblingsbruders und natürlich erwartete er auch die entsprechenden Dankesbezeugungen seitens der Familie. Aber eigentlich ist Matango Batango ihm überhaupt nicht dankbar. Wenn er so auf einem Bein in der heißen Sonne steht, von den meisten seines Stammes wirklich glühend um den Job beneidet, dann entweicht ihm immer wieder ein Seufzer. Er hat einen Traum, einen großen, schönen, aber leider unerfüllbaren Traum.
Er träumt von Finnland.
Schuld daran ist netter älterer Herr, seines Zeichens Wissenschaftler, der vor drei Jahren in die Savanne gekommen war um zu forschen. Den zu jener Zeit noch halbwüchsigen Matango hatte er als Träger, Führer, kurz gesagt als Mädchen für alles angeheuert und auch damals schon war dieser zum Gegenstand des kollektiven Neides in seinem Dorf geworden. Die Dorfbewohner gelangten zu dem Schluss, dass er schon immer anders war, ein Träumer, zwar fleißig und von vielversprechendem Wuchs, aber eben ein Träumer. Matango war das völlig egal. Er zog mit Master Mikka (Den unaussprechlichen Familiennamen des Herren brachte er nicht über seine Zunge, aber Mikka erschien ihm fast afrikanisch.) durch Busch und Savanne und sammelte nach den Anweisungen seines Arbeitgebers Erde in kleinen Fläschchen, Steine in kleinen Beuteln und unerklärlicherweise musste er immer wieder Blätter, sowohl essbare, als auch nutzlose, ja sogar giftige in einem Buch verstauen. Trotzdem ihm viele Anweisungen Master Mikkas unverständlich erschienen, führte er sie fleißig und ohne Zögern aus und irgendwie entstand im Laufe der Wochen zwischen den beiden so etwas wie Freundschaft.
Nachdem sie am Tage ausgiebig gearbeitet und geschwitzt hatten, das heißt Matango hatte mehr gearbeitet und Master Mikka hatte noch mehr geschwitzt, bauten sie am Abend ihr Lager auf und genossen gemeinsam die Abkühlung, die der Einbruch der Dunkelheit mit sich brachte. Matango bereitete das Essen und räumte später alles wieder auf. Dabei beeilte er sich immer sehr, denn er konnte es kaum erwarten, seinen Platz zu Master Mikkas Füßen einzunehmen und dessen Erzählungen zu lauschen. Jeden Abend berichtete dieser von seiner Heimat, von Finnland. 
Der staunende Matango erfuhr ganz und gar unglaubliche Dinge. Kann man sich ein Land denken, in dem es tausend Seen gibt? Schwer vorstellbar für einen afrikanischen Jungen, dessen Dorf sein Wasser aus einem stinkenden Tümpel bezog, aus dem immer zuerst die Rinder des Königs saufen durften und dessen braune schlammige Brühe in Trockenperioden von den königlichen Soldaten rationiert wurde. Und das Wasser in diesen Seen, so wusste der Master zu berichten war unglaublich klar und rein und manchmal sogar tief. Nicht genug, dass das Land so viele Seen sein eigen nennen konnte, es befand sich auch noch am Meer! Es ist nicht verwunderlich, dass Matango manchmal bei sich dachte, dass es auf der Welt sehr ungerecht zugeht.
Jeden Abend lauschte er gebannt den Erzählungen des Mannes aus diesem Wunderland. Der berichtete von weißen Nächten, in denen die Sonne auch am Abend nicht verschwindet, es aber trotzdem niemals so heiß wie in Afrika wird, von riesigen Herden der absonderlichsten Tiere, den Elchen und Rentieren. Mikka erklärte, er solle sie sich wie Rinder mit Hirschgeweihen vorstellen, nur größer und schöner anzusehen. Er schwärmte auch von den riesigen Wäldern, die drei Viertel des Landes bedecken, grün, schattig und angenehm kühl im Sommer. Im Land des weißen Mannes gab es keinen König, alle Kinder gingen in die Schule, lernten Lesen und Schreiben und vieles mehr. Matango konnte das nicht glauben, wer verrichtete denn dann die niederen Arbeiten, hütete Ziegen und holte Wasser?
Sehr bedenklich erschien ihm auch die Sache mit der Frau, die das Land regierte und der trotzdem nicht alles gehörte. Wie konnten sich die finnischen Männer das gefallen lassen?
Man musste auch in Finnland nicht alle Wege zu Fuß erledigen, auf den Bildern, die Matango an sich schon bewundernswert fand, waren seltsame Gebilde zu sehen. Da konnte man Kästen in den verschiedensten Formen bewundern, mit Rädern aus Gummi oder kostbarem Eisen, nicht aus Holz wie an den kümmerlichen Karren der Dorfbewohner. Man musste sie auch nicht ziehen, sondern angeblich fuhren sie von alleine, angetrieben von einer seltsamen Flüssigkeit. Vielleicht hatten die Finnen ja Geister beschworen und durch einen großen Zauber in diese Kästen gesperrt. Sie hatten sicher mächtige Schamanen in Finnland. Es gab sogar Menschen, die fuhren Wettrennen mit besonders schnellen Kisten. Master Mikka war besonders stolz auf einen, der so hieß wie er und zweimal schnellster Kistenfahrer der Welt wurde. Er behauptete, dass dieser Mann mit seiner Kiste schneller als ein Gepard wäre, da konnte Matango nur ungläubig lächeln.

All das war jedoch nichts gegen eine absolut erstaunliche Sache, von der Master Mikka immer wieder sprach – dem Schnee. In der Gluthitze der afrikanischen Savanne konnte Matango sich absolut nichts darunter vorstellen und auch Erklärungsversuche fruchteten nicht. Eine von Mikka gezeichnete Schneeflocke ließ ihn an den Schmuck der Häuptlingsfrauen denken, aber wie sollte ein ganzes Land davon bedeckt sein? Erst die Erwähnung des Kilimandscharo brachte den Jungen auf die richtige Spur, er hatte schon einmal einen Mann getroffen, der den großen Berg als Träger für ein paar weiße Männer bestiegen hatte. Dieser hatte ihm von diesem weißen Zeug erzählt, das den Gipfel bedeckte und so strahlend weiß, glitzernd und kalt war. Matango konnte aber trotzdem kaum glauben, dass es Zeiten und Orte geben sollte, in denen so etwas den ganzen Tag vom Himmel fiel und auch noch überall liegen blieb. Wahrscheinlich verwirrte diese Unmenge des weißen Zeugs den Bewohnern Finnlands den Verstand, so schlussfolgerte Matango, denn Master Mikka erzählte ihm, dass viele Menschen sich dann, im sogenannten Winter Bretter unter die Füße schnürten und damit über das Land glitten oder steile Abhänge herunterfuhren. Manche todesmutige Menschen stürzten sich sogar an seltsamen Gebilden, die ein bisschen wie die Nase der Häuptlingstochter von der Seite aussahen, hinab und flogen dann ein Stück durch die Luft. Aber sie hatten gar keine Flügel, nur die mysteriösen Bretter an den Füßen, wie Matango auf den Bildern deutlich erkennen konnte. Es musste schon ein wundersames Land sein, wo so etwas möglich war.
Die Leute mit den Stöcken, die der kleinen schwarzen Scheibe hinterher rannten und auf weiße kleine Netzkästen zielten, die konnte der junge Afrikaner schon eher verstehen. So etwas ähnliches spielten auch die afrikanischen Männer. Natürlich hatten sie keine Netzkästchen, sie verkleideten sich dafür nicht als Dämonen und sie spielten im Staub des Dorfplatzes und nicht auf Eis, welches eigenartigerweise den Fußboden eines Hauses bedeckte. Master Mikka fand dieses Spiel genau so interessant wie sein Träger, doch seltsamerweise nannte er es Sport, wo es doch eigentlich das pure Vergnügen war.
So zogen die beiden wochenlang durch Afrika, Matango arbeitete, Master Mikka forschte und erzählte. Es verging kein Abend, an dem er nicht staunend die Augen aufriss und auch ein klein wenig am Wahrheitsgehalt der vielen Geschichten zweifelte. Ein Häuschen in dem man Feuer macht, alle Türen und Fenster verschließt, Wasser auf glühende Steine gießt und dann freiwillig darin bleibt, das verbannte er sofort ins Reich der Fantasie. So blöd konnte doch nun wirklich kein Mensch sein.
Manchmal, besonders gegen Ende ihrer Expedition, hatte Matango den Eindruck, dass sein Master Mikka mit den Tränen kämpfte, wenn er von seiner Heimat sprach. Er schloss daraus, dass dieser Finnland wirklich liebte. Ein Land das jemanden zu Tränen rührt, das kann nur ein außergewöhnlich herrliches Land sein. Er wollte auch nach Finnland, Schnee sehen, in Kästen auf Gummirädern fahren, sich Bretter unter die Füße binden und gleiten, ja er hätte sich sogar auch einmal in so eine komische heiße Hütte ohne Fenster gesetzt, wenn er nur jemals dieses wunderbare Land zu Gesicht bekäme.
Natürlich ging Master Mikka ohne Matango nach Finnland zurück. Er entlohnte ihn großzügig, wünschte ihm alles Gute und schenkte dem Jungen zu guter Letzt noch ein Bild, auf dem Menschen mit Brettern an den Füßen durch den Schnee glitten.
Nun ist Matango Hirte des Königs. Wenn er versucht, den Dorfbewohnern etwas von Finnland zu erzählen, dann lachen sie ihn aus und nennen ihn einen Spinner. Das tun sie gerne, denn sie beneiden ihn um den Job. So haben sie wenigstens das Gefühl, ihm ein bisschen etwas von seinem unverschämten Glück weg zu nehmen. Aber Matango Batango stört das nicht. In der glühenden Sonne Afrikas steht er auf einem Bein bei den Rindern des Königs. Er träumt von Finnland. Und seufzt.

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