Die Frau sieht irgendwie komisch aus, dachte Anna und schaute sich die alte Dame, die ihr gegenüber saß, genauer an. Sie sah diese zwar fast jeden Tag, wenn sie in die Schule fuhr, konnte aber nicht feststellen, was sie störte. Sie hatte eigenartige Haare, sie wirkten fast wie ein Helm, eisengrau, jede Strähne lag wie festgeklebt an ihrem Platz. Aber auch die knollige Nase kam Anna komisch vor, besonders mit dem Haarbüschel auf der Spitze, das war schon echt eklig. Anna dachte daran, dass ihre Mutter immer sagte, dass man Menschen nie nach ihrem Äußeren beurteilen sollte und so unterdrückte sie ihren Ekel und schaute der Frau wieder ins Gesicht. Die sah gerade hoch und lächelte das Mädchen an. Vor Schreck zuckte Annas Blick nach unten, jedoch die Füße der seltsamen Oma waren auch nicht gerade beruhigend, riesengroß steckten sie tatsächlich in Reitstiefeln. Aber immer noch besser als das Lächeln, das eindeutig viel zu viele und zu spitze Zähne enthielt. Anna wusste nicht, wo sie hinschauen sollte. Der Blick aus dem Fenster war in der U-Bahn nicht gerade interessant, aber da kam zum Glück Annas Haltestelle und sie konnte aussteigen. Schnell hastete sie die Treppen hinauf und versuchte dabei, das flaue Gefühl in ihrem Magen zu unterdrücken, dass weniger mit der U-Bahn-Oma, als vielmehr mit ihrem Ziel zu tun hatte, der Schule. Anna war eigentlich immer gerne in die Schule gegangen, bis zu dem Tag, an dem die Neue in die Klasse kam. Groß, überschlank, mit langen blonden Haaren, blitzend weißen Zähnen und einem betörenden Lächeln lagen ihr alle zu Füßen, beteten sie förmlich an und merkten dabei gar nicht, wie sie vereinnahmt wurden. Jeder erfüllte ständig irgendeinen Auftrag von Stefanie, die Anna für sich nur die Gottesanbeterin nannte. Sie schien die einzige zu sein, die deren Zauber nicht erlegen war. Anna war sich sicher, dass die vielen unerklärlichen Vorfälle der letzten Wochen alle auf Stefanies Konto gingen. Ob es Hausaufgaben waren, die kurz vor der Stunde aus Annas Tasche verschwanden, ein blitzartig ausgestreckter Fuß, der sie ausgerechnet in die einzige Schlammpfütze auf dem Schulhof stürzen ließ oder irgendeine andere Gemeinheit, Anna wusste ganz genau, wer dahinter steckte. Dabei war vieles wirklich sehr merkwürdig - wie konnten die Hausaufgaben aus der Tasche verschwinden, die Anna nie aus den Augen gelassen hatte und wie konnte sie in eine Pfütze fallen, die im Augenblick ihres Sturzes bestimmt drei Meter entfernt war? Während Anna noch grübelte, schloss sich die schwere Schuleingangstür gerade in dem Moment, als sie hindurchgehen wollte und quetschte ihr schmerzhaft die Schulter. „Du bist so ein Tollpatsch!“, höhnte eine verhasste Stimme. Die Gottesanbeterin stand auf der obersten Stufe der Treppe und sah triumphierend auf sie herab. „Das warst du!“, keuchte Anna und rieb sich mit schmerzverzerrtem Gesicht die Schulter. „Beweise es!“, höhnte die Blonde und Anna glaubte, in ihren Augen ein grelles, rötliches Funkeln gesehen zu haben. Aber leider war sie sich auch sicher, dass sie nichts beweisen konnte, hatte die Tür sich doch geschlossen, als Stefanie schon auf der Treppe stand. Anna hatte jetzt keine Zeit, darüber nachzudenken, die Mathestunde begann in 3 Minuten und sie musste sich beeilen. Völlig außer Atem kam sie mit dem Klingelzeichen in den Raum gehastet und ein weiterer schrecklicher Schultag nahm seinen Lauf.
Nach der letzten Stunde ging Anna langsam und nachdenklich die Treppe hinunter, ihre Schulter schmerzte noch immer und die Schultasche schien eine Tonne zu wiegen. „Aus dem Weg, du lahme Schnecke!“, ertönte hinter ihr eine Stimme, die sie überall erkannt hätte. Es war Felix, der süße Felix mit den dunklen Locken und der kleinen Nickelbrille, in den Anna schon seit Schuljahresbeginn heimlich verliebt war. Bevor das blonde Gift in die Klasse kam, hatte es den Anschein, als ob er ihre Gefühle erwiderte und sie standen kurz vor ihrem ersten Date. Jetzt trug Felix regelmäßig Stefanies Tasche treppauf und treppab und las ihr jeden Wunsch von den Lippen ab. Anna seufzte traurig, es war ungewöhnlich wie die ganze Schule auf Stefanie zu hören schien. Selbst die Lehrer ließen sich von ihr beeinflussen, wie sie in der Mathestunde am eigenen Leib erfahren musste. Als Herr Berkes Stefanie zur Leistungskontrolle an die Tafel bat, fragte diese mit honigsüßer Stimme: „Wollten sie nicht eigentlich Anna prüfen?“ Herr Berkes schaute etwas verwirrt und stotterte dann: „Mm, ja. Äh, ja, natürlich. Anna komm an die Tafel!“
Auch jetzt, nach der 7. Stunde, dachte Anna immer noch fassungslos über diesen Vorfall nach. Stefanies Macht über die Schule wuchs von Tag zu Tag und Anna stand ganz alleine da. Sie konnte mit keinem darüber sprechen, offensichtlich standen alle unter Stefanies Bann. Auch ihre Mutter würde ihr das sicher nicht glauben.
Immer noch völlig in Gedanken versunken, ging sie zur U-Bahn, wartete auf ihren Zug, stieg ein und setzte sich auf einen freien Platz. Als sie hoch blickte, schaute sie geradewegs in die hellen Augen der seltsamen alten Dame. Anna erschrak. Schnell holte sie ihr Mathebuch aus der Tasche und vertiefte sich in die Hausaufgaben, irgendwie musste sie schließlich die schlechte Note von heute morgen wieder ausbügeln.
Eine eigenartige Stille breitete sich aus, selbst die Fahrgeräusche der U-Bahn waren verstummt. Anna blickte von ihrem Buch auf – abgesehen von ihr und der alten Frau waren alle Fahrgäste verschwunden. „Was geht hier vor?“, fragte Anna panisch. Die Alte tätschelte ihr Knie und Anna konnte nicht umhin, die dicken, langen, hornigen Fingernägel zu bemerken. „Mach dir keine Sorgen, Anna.“, sagte sie freundlich. Auch ihre Stimme war komisch, dunkel und irgendwie knarzig und mit einem englischen Akzent. Anna war wie erstarrt, als plötzlich die Perücke verschwand, das Haarbüschel auf der Knollennase zu wachsen begann, die Fingernägel sich zu scharfen Klauen streckten, die Zähne länger und noch spitzer wurden und die ganze Frau in die Höhe und Breite wuchs. Mit einem hässlichen Geräusch platzten die blankpolierten Reitstiefel auseinander und auch hier kamen grässliche Klauen zum Vorschein. Das Mädchen brachte vor Entsetzen keinen Ton heraus, in ihrem Kopf hallte nur ein unablässiges nein, nein, nein. Sie schloss die Augen und hoffte, dass gefressen zu werden nicht allzu weh tun würde.
Die widerlichen Geräusche der Verwandlung waren verstummt. Anna presste immer noch die Augenlider zusammen. Als Ungeheuerfutter zu enden erschien ihr der logische Abschluss für einen echt miesen Tag.
Als nichts geschah, blinzelte sie vorsichtig und öffnete dann die Augen. Ihr gegenüber saß ein wahrer Albtraum, ein Monster aus einem Horrorfilm und hatte eine Alte - Damen - Handtasche auf dem linken, riesigen, knorpeligen Knie stehen. Anna öffnete den Mund um zu fragen, warum sie noch nicht aufgefressen war, aber nur ein heiseres Krächzen kam heraus. „Well, mein liebes Kind, ich will dich nicht fressen.“, sagte das Ungeheuer und stellte sich höflich vor: „Mein Name ist Amanda.“ „Äh, angenehm. Anna.“, flüsterte diese und streckte zögernd ihre Hand aus, die in Amandas Pranke sofort verschwand. „Ich weiß wer du bist.“, knarzte das Wesen und schüttelte behutsam Annas Hand. „Was bist du und was ist hier los ?“, fragte Anna, die das Gefühl hatte, dass nichts mehr sie erschüttern würde. „Man könnte sagen, ich bin hier zu Hause.“, antwortete das Ungeheuer. „Ich bin eine U-Bahn-Trolla und kam 1902 nach Berlin, als hier die erste Metrostrecke eröffnet wurde.“ „Woher?“, fragte Anna. Die Trolla erzählte: “Ich kam aus London, da bin ich seit 1890 im Einsatz gewesen. Als die Industrialisierung weiter fortschritt, da mussten wir Trolle uns anpassen. Wälder und sichere Höhlen gab es immer weniger. Weil wir ja bekanntlich im Sonnenlicht zu Stein werden, ist das Trollvolk in die U-Bahn-Schächte gezogen.“ „Und London hatte die erste U-Bahn.“, erinnerte sich Anna. „Aber warum bist du nach Berlin gekommen?“ Die Trolla schaute besorgt aus dem Fenster, aber da war natürlich nur das schwarze Nichts zu sehen. „Es würde zu lange dauern, dir jetzt alles zu erklären. Ich muss dich etwas wichtiges fragen.“ Anna fühlte, wie sie Vertrauen zu dem Geschöpf fasste, außerdem fand sie den englischen Akzent richtig niedlich. Eine Frage hatte sie allerdings noch: „Warum trägst du als alte Dame ausgerechnet Reitstiefel?“ Die Trolla zeigte verlegen auf ihre Füße und erklärte: „Ich habe selbst für unsere Art ungewöhnlich große Füße und das wirkt sich auch negativ auf meine Tarnung aus. Diese Stiefel sind die einzigen die passen.“ „Und außerdem glänzen sie so schön.“, fügte sie verschämt hinzu. Anna musste grinsen, was ihr jedoch schnell wieder verging, als Amanda ernst fragte: “Gab es in letzter Zeit an deiner Schule irgendwelche komischen Vorfälle oder sind unangenehme Personen aufgetaucht?“ Anna sprudelte die ganze Geschichte mit der verhassten Stefanie heraus und das Gesicht der Trolla wurde immer besorgter. „Wie sieht diese Stefanie denn aus?“, fragte sie. Als Anna die Blondine beschrieb und auch das rote Glitzern erwähnte, da erbleichte Amanda, soweit das bei der fahlen gelbgrünen Haut einer Trolla möglich war. „Es hat also wirklich wieder einer geschafft.“, stöhnte sie verärgert. „Wer hat was geschafft?“ , wollte Anna aufgeregt wissen. „Wir treffen uns morgen wieder, dann erzähle ich dir alles.“, sagte Amanda und machte merkwürdige Verrenkungen mit ihren Fingern. Alles schien zu verschwimmen und plötzlich saß Anna in der normalen U-Bahn voller Menschen und die Oma mit den Reitstiefeln lächelte sie an. „Tomorrow morning.“, raunte sie Anna zu.
Am nächsten Morgen stieg Anna sich wie gewohnt in die U-Bahn ein. Sie war sich nicht sicher ob die Ereignisse vom Vortag ein Traum gewesen waren, aber schon setzte sich die alte Frau zu ihr. Als alle Geräusche verstummten, die anderen Leute verschwanden und Amanda ihre wahre Gestalt annahm, war Anna nicht im geringsten verängstigt, sie war sehr gespannt auf die Geschichte der Trolla und brannte darauf, es Stefanie heim zu zahlen. „Erzähle!“, drängte sie. Amanda begann: „Wie du dir sicher denken kannst, sind wir Trolle nicht die einzigen magischen Wesen auf der Erde. Seit wir die U-Bahn-Schächte als neue Heimat wählten, ist es für uns eine Frage des Überlebens, diese zu beschützen. Heute gibt es in jeder U-Bahn auf der Welt mindestens einen Wächter-Troll.“ „In Berlin bist du das!“, warf Anna aufgeregt ein. „Ja, als der Berliner Wächter verschwand, wurde ich von London hier her beordert.“ „Vor wem müsst ihr denn die U-Bahn schützen?“, wunderte sich Anna. „Vor den Bus-Elfen. Das Elfenvolk war immer auf Zwietracht aus und wollte die alleinige Herrschaft über die Menschenwelt erringen, aber der alte Trollhäuptling Barnulf belegte sie mit einem Bann und von nun an müssen sie in Bussen auf der ganzen Erde wohnen, in jedem Bus einer.“ „Das hat ihnen aber bestimmt nicht gefallen.“, warf Anna ein, die Busse nicht mochte. „Nein und deshalb versuchen sie auch, den Bann zu brechen.“ „Geht denn das?“ „Nicht solange noch ein Troll in einer U-Bahn lebt. Erst wenn das Trollvolk vernichtet ist, dann löst sich der Zauberbann und die Elfen sind wieder frei.“ „Das wäre schrecklich.“, sagte Anna. „Aber was hat das mit Stefanie zu tun?“ „Manchmal kann ein Elf irgendwie aus einem Bus entkommen und dann versucht er, den U-Bahn-Troll einer Großstadt zu vernichten. Weil er das nie alleine schaffen würde, schleicht er sich in einer großen Schule ein und bringt dort alle unter seinen Bann.“ Anna wurde auf einmal vieles klar. „Dann organisiert er einen Schulausflug mit der U-Bahn. Natürlich gibt es während des Ausflugs einen schrecklichen Unfall mit vielen Toten und deren Geister hetzt der Elf auf den Troll.“ Anna war erschüttert. Ihre Mitschüler und Amanda sollten wegen dieser dämlichen Blondine sterben. Amanda zog ein Fläschchen aus der Tasche. „Es gibt einige wenige Menschen, die stark genug sind, den Verlockungen der Elfen zu widerstehen. Du gehörst zu ihnen.“, sagte sie ernst. „Die eigentliche Schwierigkeit sind immer wir Trolle. Die Kontaktaufnahme geht meistens schief, weil wir so furchtbar aussehen. Zum Glück bist du nicht ohnmächtig geworden oder schreiend davon gerannt wie so viele andere.“ Wieder musste Anna daran denken, was ihre Mutter über Äußerlichkeiten gesagt hatte. Mütter schienen meist recht zu behalten. „Was kann ich tun?“, fragte sie entschlossen. Die Trolla reichte ihr die Flasche. „Wenn du Stefanie dazu bringst das zu trinken, wird sie sich auflösen und es gibt einen Bus-Elfen weniger auf der Welt.“ Anna steckte das Fläschchen vorsichtig ein. „Verlass dich auf mich.“, sagte sie ernst.
In der Schule unterdrückte sie ihren Brechreiz und benahm sich wie alle anderen – sie himmelte Stefanie an. Sie ging sogar so weit, deren Tasche von einem Raum zum anderen zu tragen. Der verkleidete Bus-Elf grinste selbstzufrieden, stand doch seinem Plan nun nichts mehr im Weg. So griff Stefanie auch ohne zu überlegen zu, als Anna ihr nach der Sportstunde ganz selbstverständlich ihre Wasserflasche reichte und trank alles in einem Zug aus. Die anderen Mädchen im Umkleideraum bemerkten das sanfte Pfff, mit dem Stefanie verschwand, nicht einmal und die kleine lila Pfütze auf der Bank, die von ihr übrig blieb, wischt Anna schnell mit ihrem Sporthemd weg, das musste sowieso in die Wäsche.
Anna konnte es nicht erwarten, Amanda von ihrem Sieg zu berichten. Es kam ihr vor, als ob die ganze Schule aus einem Dornröschenschlaf erwacht wäre. Alle redeten wieder über die üblichen Dinge, keiner schlich katzbuckelnd durch die Gänge, die Lehrer ärgerten unvoreingenommen und ohne Ausnahme alle Schüler, kurz Anna befand sich wieder an einer völlig normalen Schule.
„Wollen wir uns nicht mal treffen?“ fragte plötzlich eine Stimme. Annas Herz machte einen Sprung. Felix! War er immer noch der Richtige? Nach kurzem Überlegen zog sie ihn in Richtung U-Bahn und sagte: „Komm mit. Ich möchte dir gern jemanden vorstellen.“
Samstag, 27. Februar 2010
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